Maurice Joly: Das Handbuch des Aufsteigers
Hier die gute Rezension aus der neuen Züricher Zeitung von Martin Ebel: "Eine Zeit lang war es in Managerkreisen Mode, sich aus fernöstlichen Kriegsfibeln Entscheidungshilfen zu holen. «Schau dem Tiger in die Augen, bevor du über ihn hinwegspringst» oder so ähnlich lauteten die Orakelsätze aus exotischer Ferne, aus denen dann abzuleiten war, ob man den Rivalen entlassen oder befördern, ob man die Konkurrenzfirma aufkaufen oder mit Dumpingpreisen attackieren sollte. Maurice Jolys «Handbuch für Aufsteiger» ist präziser und viel näher an unserer Realität, sogar verblüffend nahe, wenn man bedenkt, dass es im Jahre 1867 entstand. Da sass der Autor, ein Anwalt und Bohémien aus dem französischen Jura, gerade im Gefängnis – wegen seiner voraufgegangenen Veröffentlichung. Diese – «Ein Streit in der Hölle» – hatte mit den Mitteln eines fiktiven Gesprächs zwischen Machiavelli und Montesquieu mit Regierung und Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs abgerechnet. Ungewollt lieferte Joly damit die Vorlage für ein perfides antisemitisches Machwerk: die «Protokolle der Weisen von Zion», die den angeblichen Plan einer jüdischen Weltverschwörung dokumentieren sollten, beruhen zu grossen Teilen auf einer grob verfälschenden Bearbeitung dieses Dialoges durch die zaristische Geheimpolizei. Das Original und sein Autor verdienen mehr als ein Fussnotendasein in der trüben Geschichte des Antisemitismus. Das bestätigt sich bei der Lektüre von «L'art de parvenir», das ebenso scharfsinnig und ebenso bitter ausgefallen ist wie der «Streit in der Hölle» und darüber hinaus prophetische Qualitäten aufweist, stilistische Brillanz und eine gehörige Portion Witz. In der Form eines Ratgebers hält Joly seinen Zeitgenossen einen mitleid- und schonungslosen Spiegel vor. Und der zeigt eine Gesellschaft, die – nach etlichen Revolutionen und Restaurationen, nach Königsmorden und Götterstürzen – einzig den Erfolg auf ihre Fahnen geschrieben hat. Die Standesgrenzen sind gefallen, gesellschaftlicher Aufstieg ist im Prinzip jedem möglich: eine Erkenntnis, die die Romane Balzacs und Stendhals nachhaltig geprägt haben. Joly, eine Generation später und um entsprechend viele Illusionen ärmer, konstatiert, dass gerade in politisch egalitären Systemen der Drang nach Abgrenzung, nach Distinktion, besonders gross ist. Nach oben gelangen nicht die besten und klügsten Köpfe, sondern die ehrgeizigsten, was nichts anderes heisst als: die raffiniertesten, die intrigantesten, die anpassungsfähigsten und verlogensten. Wer nach oben will, muss keine herausragenden geistigen Fähigkeiten haben, er muss sich nur verstellen können, die Interessen und Schwächen seiner Mitmenschen richtig einschätzen und ausnutzen, Helfer und Beschützer mobilisieren und im geeigneten Moment das Lager wechseln können. Wenn Joly Beispiele aus der französischen Geschichte heranzieht, schlägt durchaus Bewunderung durch für einen «Meister der Verschlagenheit» wie den Kardinal Richelieu. Aber bei diesem diente alle Strategie nicht nur dem persönlichen Ehrgeiz, sondern auch einem höheren Ziel. Das Parvenütum, das Joly in seiner Umgebung beobachtet, findet seine Erfüllung dagegen einzig in sich selbst. Für heutige Leser am vergnüglichsten sind die Kapitel über Presse und Öffentlichkeit. Joly stellt bei seinen Zeitgenossen eine «ausserordentliche Sucht nach Bekanntheit» fest. Wer sich «mit Vor- und Zunamen in der Zeitung sieht», fühlt sich «so gross wie die Pyramiden». Das gibt den Journalisten, den Schleusenwärtern der Öffentlichkeit, eine äusserst privilegierte Stellung. Besonders die Schriftsteller buhlen darum, ihre Werke lobend erwähnt zu sehen. «Ein gewisser Kritiker wird wie ein Gott verehrt», schreibt Joly und entwirft auf zwei Seiten dessen ätzendes Porträt. Anderseits müssen die Zeitungen Lesererwartungen bedienen und ihre Spalten den Tagesberühmtheiten widmen – so wie heute auch seriöse Tageszeitungen einen Schuss «yellow press» nicht vermeiden können. Und wenn ein solcher Prominenter gar ein Buch schreibt, ist der Erfolg unvermeidlich, selbst wenn es «nur dazu taugt, eingestampft zu werden». Den Literaturbetrieb kennt der erfolglose Literat Joly besonders gut; er schildert nicht nur Kumpanei und Korruption, sondern auch die Macht von PR-Kampagnen, als lebte er hier und heute: «Die Gewohnheit des Publikums, sich nur noch unter den Einpeitschungen einer wildgewordenen Reklame in Bewegung zu setzen, löst einen perfekten mechanischen Ablauf aus. Kein Geschmack, keine Vorliebe kann der Kraft eines aufgedrängten Erfolgs standhalten. Es gibt sogar eine Art fassungsloser, abgestumpfter Faszination, die sich aus dem Zynismus der Werbung ergibt.» Weshalb literarische Berühmtheit, so das provozierende Fazit, «nichts weiter ist als ein künstliches Produkt von Presse und Buchhandel». Auch das Gerangel der politischen Parteien um die Besetzung von Begriffen kommt dem heutigen Leser bekannt vor. Nun ist Joly kein vom Leben enttäuschter Griesgram, der jene Trauben sauer nennt, an die er nicht herangekommen ist. Sein Stil ist elegant und pointenreich, seine Haltung die eines Souveräns im Reich des Geistes. So spielt er auf witzige Weise sowohl mit der Zensur (indem er selbst «gefährliche» Absätze streicht) als auch mit der Neugier des Lesers (dem er, ätsch!, das Kapitel über glückliche Geldgeschäfte erst ankündigt und dann vorenthält, «wie man 100 000 Francs gewinnt, ohne einen Sou einzusetzen»). Ein ganzer Abschnitt besteht gar nur aus Hieroglyphen. In der Vorrede kündigt er an, dass die Kenntnis der Erfolgsrezepte noch keinen Erfolg zeitige, im Gegenteil: «Wer über die Dinge des Lebens die besten Beobachtungen angestellt hat, ist im Allgemeinen am wenigsten erfolgreich.» Damit erwies sich Maurice Joly als Prophet in eigener Sache. Auch die Regierung, die auf das verhasste Second Empire Napoleons III. folgte, machte ihm den Prozess. Nie erlangte er als Autor die geringste Anerkennung. 1878 nahm er sich das Leben, noch keine fünfzig Jahre alt. Die Urteile der Nachwelt, sagt Joly, sind nie unfehlbar; die Vergangenheit wird ständig neu bewertet und umgeschrieben. Deshalb kann auch ein erst übersehenes und dann völlig vergessenes Werk wie sein «Handbuch des Aufsteigers» jetzt eine zweite Chance erhalten. Im deutschsprachigen Raum ist es überhaupt die erste. |